Suche

  • Erweiterte Suche

    Filter nach Inhaltstyp

Sprache

Lesbarkeit

Kalendereinträge filtern

Anhand der Auswahl gefundene Beiträge:

Datum
Format
Themen

 

 

Hauptmenü

Im Kontext Digitalität und Zivilgesellschaft spielen Barrieren und Zugänge eine zentrale Rolle. Bei der diesjährigen Werkstatt-Tagung setzen wir uns zunächst mit dem Digital Divide aus globaler Perspektive und kolonialen Kontinuitäten in digitalen Raum auseinander, bevor wir eine lokale Perspektive einnehmen und uns mit der Frage befassen, was wir in unseren Organisationen tun können, um Barrieren abzubauen, Zugänge zu schaffen und kollektive Zusammenarbeit zu ermöglichen. Diese begleitende Interviewreihe bietet verschiedene Perspektiven auf den Themenkomplex und lädt mit Leseempfehlungen dazu ein, tiefer einzutauchen.

Ernüchterung statt Euphorie – der digitale Wandel aus entwicklungspolitischer Perspektive

Sven Hilbig

Sven Hilbig beschäftigt sich als Referent für Handelspolitik & Digitalisierung in der Politikabteilung von Brot für die Welt vor allem mit der Frage: Was sind die Auswirkungen von Digitalisierung auf den globalen Süden? Sein Arbeitsschwerpunkt sind die ökonomischen Folgen.

Was bedeutet für dich eine fair gestaltete Digitalisierung im Großen und im Kleinen?

Auf der Makroebene müssen wir leider feststellen, dass die Digitalisierung bisher sehr ungleich verläuft. Im Rahmen der Plattformökonomie sehen wir, dass über 70 Prozent der weltweiten Marktanteile sich auf lediglich sieben Konzerne konzentrieren, fünf davon aus den USA und zwei aus China. Weitere 20 Prozent der Marktanteile entfallen auf mittelgroße Digitalkonzerne, die ebenfalls aus diesen beiden Ländern stammen. Die übrigen 191 Staaten müssen sich entsprechend mit mickrigen 10 Prozent der Marktanteile begnügen. Lateinamerika hat beispielsweise lediglich einen Anteil von nur 0,2 Prozent!

Nach Ansicht unserer Partnerorganisationen ist es ganz wichtig, dass die ökonomische Teilhabe sich verbessert. Mehr Menschen sollen von diesem innovativen Wirtschaftszweig profitieren, der auf makroökonomischer Ebene für viel Wachstum sorgt. Am Beispiel kleinbäuerlicher Teeproduzent*innen aus Ost-Afrika lassen sich die Fehlentwicklungen gut skizzieren. Die Digitalisierung der Teelieferkette wurde von den Kleinproduzenten zunächst begrüß. Sie erhofften sich dadurch, eine verbesserte Vernetzung und einen direkten Zugang zu den Konsumenten. Infolge der Umgehung der Zwischenhändler*innen sollte ein größerer Anteil der Gewinne bei den Produzent*innen verbleiben. In der Realität hat sich zwar die Kommunikation stark vereinfacht, doch profitiert haben davon die großen Konzerne, denen aufgrund der Digitalisierung immer mehr Daten zur Verfügung stehen und damit das Wissen darüber, wo Teeproduzent*innen zu gleichen Bedingungen produzieren. Da sich der Pool an potentiellen Teeproduzenten vergrößerte, verschärfte sich der Wettbewerb zwischen den Kleinbauern, wodurch die Einkaufspreise weiter gedrückt wurden. Schlussendlich haben sich die Gewinne der Teebauern durch die digitalen Lieferketten sogar verringert.

Was ist euer Ansatz, um das zu ändern?

Im ersten Schritt geht es darum, überhaupt auf die Problematik hinzuweisen. Denn in der Entwicklungszusammenarbeit wird nach wie vor sehr positiv auf das Thema Digitalisierung geblickt. Das BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) stellt es so dar, als ob es durch die Digitalisierung einen ganz großen Boom auf dem afrikanischen Kontinent gibt, von dem die Gesellschaften und Akteure vor Ort stark profitieren würden.

Wir haben die Entwicklung über einen längeren Zeitraum aus makroökonomischer Perspektive beobachtet und kommen zu einem anderen Schluss. In der Tat gibt es viele Start-ups, aber 90 % überleben, wie es in der Natur der Sache liegt, nicht einmal das erste Jahr oder kommen mal gerade im zweiten Jahr an und beschäftigen natürlicherweise nur wenige Menschen. Wenn beispielsweise in einem Slum in Nairobi, wo 300.000 oder 400.000 Menschen leben, zehn Menschen in drei Start-ups arbeiten, dann geht das eben nicht in die Breite!

Insgesamt ist der afrikanische Kontinent kein großer Profiteur der Digitalisierung. Im Gegenteil, es gibt sogar starke Marginalisierung beispielsweise im Bereich E-Commerce. Unter dem Titel „Gerechtigkeit 4.0“ haben wir dazu vor drei Jahren eine umfangreiche Publikation herausgebracht.

Wer sind dafür wichtige Verbündete?

Brot für die Welt sitzt in Deutschland, ist aber eine weltweit tätige Organisation mit Partnerorganisationen in über 90 Ländern. Wir kooperieren mit über 1.300 lokalen NGOs und sozialen Bewegungen. Wir arbeiten sehr partnerorientiert, das heißt, dass die Themen nicht hier bei uns im Berliner Büro gesetzt werden, sondern von den Partner*innen an uns herangetragen werden. Das Thema digitaler Handel beispielsweise stand zuvor bei keiner deutschen NGO auf der Agenda. Ich habe viel von und mit unseren Partner*innen gelernt und Strategien entwickelt, wie wir das Thema stark machen können.

Um das Thema weiter in die Öffentlichkeit zu tragen, laden wir Partnerorganisationen zu öffentlichen Fachgesprächen ein und organisieren Veranstaltungen. Gemeinsam mit unseren Partnern nehmen wir an verschiedenen internationalen Foren teil, um dort auf die Problematik aufmerksam zu machen. Im April konnten zahlreiche unserer Partner beispielsweise bei einer Konferenz der UN-Organisation für Handel und Entwicklung ihre kritischen Positionen einbringen.

Was ist euer großes Ziel für die nächsten Jahre?

Um den Wild-West-Zustand in der digitalen Welt, von dem vor allem die großen Digitalkonzerne profitieren, zu regulieren, gibt es in Deutschland und Europa bereits verschiedene Ansätze. Im globalen Süden hingegen gibt es bisher nur vereinzelte Bemühungen, beispielsweise initiiert von den Regierungen in Ruanda, Südafrika, Nigeria oder Indien. Was aber bisher fehlt, ist das Eintreten für  globale Datenrechte, also Standards, die auf multilateraler Ebene verhandelt werden.

Wir wollen erreichen, dass auf UN-Ebene solche globalen Datenrechte geschaffen werden. Wir setzen große Hoffnung in eine Digitalkonferenz auf UN-Ebene im Jahr 2025. Bis dahin müssen gute Vorschläge entwickelt werden, damit im Bestfall eine konkrete Vereinbarung im Jahr 2025 geschlossen werden kann.

Wie muss digitale Infrastruktur gestaltet sein, um möglichst Zugang für alle zu ermöglichen?

Dafür ist es elementar, dass wir die digitale Infrastruktur nicht den privaten Unternehmen überlassen! Die großen Digitalkonzerne sind so dominant, weil sie große Teile der digitalen Infrastruktur beherrschen. Hier sehen wir deutlich die Analogie zu früheren Jahrhunderten, in denen große Erdölkonzerne so groß geworden sind, weil ihnen Infrastruktur wie die Bohrtürme, die Raffinerien zur Herstellung von Kraftstoffen, die Pipelines und die Tanker, die das Erdöl vom afrikanischen Kontinent gebracht haben, gehörten.

Auch heute liegt der weitere Ausbau der digitalen Infrastruktur ganz überwiegend in den Händen von Konzernen wie Meta. Das Unternehmen verlegt derzeit beispielsweise 45.000 km Seekabel für stabiles Internet auf dem afrikanischen Kontinent und die Verbindung mit Europa und asiatischen Ländern. Wenn das gelingt, heißt das zweierlei: Mehr Menschen können das Internet nutzen. Aber sie sind vollkommen abhängig von einem einzigen Unternehmen. Wenn man in den Himmel blickt, zeigt sich ein ähnliches Bild. Das riesiges Satelliten-System von Elon Musk, das in den kommenden Jahren auf 10.000 Satelliten wachsen soll, soll die ganze Welt bis in den entlegensten Winkel mit einem Internetzugang versorgen. Doch auch hier diktiert ein Mann die Bedingungen und gegebenenfalls könnten einzelne Regionen gezielt abgestellt werden. Um diese Abhängigkeiten zu verringern, ist es so wichtig, dass es auch eine öffentliche Kommunikationsinfrastruktur gibt!

Der Zugang zum Internet ist eine Sache, eine andere Frage ist, wie frei das Internet genutzt werden kann. Kannst du einen Überblick geben, wie Zivilgesellschaften weltweit das Internet nutzen können und welche Herausforderungen es gibt?

Digitalisierung hat das Potenzial NGOs dabei zu helfen ihre Arbeit freier und effektiver zu gestalten. Aus Aserbaidschan, wo die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt ist, ist beispielsweise eine NGO nach Berlin umgezogen, um von hier aus via Social Media weiterhin ihre Botschaften und Positionen verbreiten zu können.

Digitalisierung kann in einem globalen Kontext, indem Zivilgesellschaften und Demokratien immer mehr unter Druckgeraten, aber auch für Repressionen genutzt werden, also um zivilgesellschaftliche Organisationen noch stärker in ihrer Arbeit zu behindern. Beispiele dafür sind Internet-Shutdowns in Indien oder digitale Überwachung, um kritische Stimmen aufzuspüren, zu kontrollieren und zu verfolgen.

Überwiegen deiner Meinung nach eher die Nachteile oder die Vorteile der Digitalisierung in Bezug auf die Möglichkeiten von Zivilgesellschaft?

Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort, denn damit unterschlägt man regionale Entwicklungen und Differenzen. In der Tendenz steht zivilgesellschaftliche Arbeit jedoch heute noch stärker unter Druck als in den letzten Jahren und digitale Instrumente werden vermehrt gegen die Zivilgesellschaft eingesetzt. Unser neuer Atlas zur Zivilgesellschaft macht dies sehr deutlich: Nur noch 240 Millionen Menschen leben in offenen Staaten. 6,9 Milliarden Menschen hingegen beschränkten, unterdrückten oder geschlossenen Gesellschaften. Erschreckenderweise hat jedes dritte Unternehmen, das Überwachungstechnologie verkauft, seinen Sitz in der EU.

Die große Schieflage, in der das kommerzielle Internet liegt, und die Macht, die bei einzelnen großen Konzernen, zum Teil aus autoritären Staaten liegt, macht mir große Sorgen. Denn das schränkt auch die Wahlfreiheit, wie einzelne Bürger*innen oder NGOs die Möglichkeiten des Internets nutzen können, deutlich ein.

Was sind Digital-Projekte, die dich begeistern und einen positiven Einfluss auf eine sozial gerechtere Welt haben?

Mit der App Plantix können Bäuer*innen ein Foto von Pflanzen machen, die eine Krankheit oder ein Problem haben. Via App wird eine Diagnose gestellt und es gibt Handlungsempfehlungen, wie die Pflanze behandelt werden kann. Das ist ein tolles Hilfsinstrument, insbesondere für Menschen, die in abgelegenen Regionen leben. Durch andere digitale Anwendungen können, sofern die technischen Voraussetzungen gegeben sind, beispielsweise auch Kinder in Flüchtlingslagern unterrichtet werden, selbst wenn die Lehrer*innen weit entfernt sind.

Weiter informieren kannst du dich hier:

Möchtest du deine Gedanken zu diesem Beitrag teilen, weitere Informationen zur Verfügung stellen oder ganz neue Fragen aufwerfen?
Wir öffnen den Raum dafür hier im Forum von hamburg.global

Am 08.12. wird Sven Hilbig auch auf unserer Werkstatt-Tagung // Digitalität & Zivilgesellschaft – Barrieren und Zugänge dabei sein! Komm doch auch 😉

Beitrag Teilen