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Interview // Disability Mainstreaming - Zugänge für alle erleichtern

Portrait von Simone Katter.

Simone Katter ist als Leitung Kommunikation bei den Sozialheld*innen zuständig für alles was mit Außenkommunikation zu tun hat. Außerdem teilt sie in Workshops ihr Wissen zu den Themen Digitalisierung & Barrierefreiheit, sowie Inklusion.

Wer sind die Sozialheld*innen?

Wir sind ein Verein, der vor mehr als 15 Jahren von dem bekannten Inklusionsaktivisten Raul Krauthausen gegründet wurde. Wir setzen uns sowohl durch politische Kampagnen als auch durch konkrete Projekte für Barrierefreiheit und Inklusion ein. Unser Motto „Einfach mal machen!“ leben wir und versuchen Probleme, die wir erkennen, proaktiv zu lösen.

Damit deckt ihr eine große Bandbreite von Themen ab. Kannst du einige eurer Projekte kurz vorstellen, die dir Hoffnung machen?

Unser Beratungsangebot Leidmedien richtet sich insbesondere an Medienschaffende, damit sie klischeefreie über Menschen mit Behinderung berichten. Darüber hinaus bieten wir mit Gesellschaftsbilder eine Datenbank mit Bildern an, die gängige Klischees in der Bildsprache über Menschen mit Behinderungen aufbrechen. Durch die Sensibilisierung von Journalist*innen hat sich die Art, wie über Menschen mit Behinderung gesprochen wird, bereits verändert. Aber es gibt noch immer viel zu tun und die Nachfrage nach Beratung ist groß!

Bei JOBinklusive geht es um die Inklusion von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt. Hier arbeiten wir intensiv mit Arbeitgeber*innnen zusammen. In den letzten Jahren hat sich auch dank unserer Arbeit der öffentliche Diskurs stark verändert. Mittlerweile wird das Paralleluniversum Werkstätten kritischer betrachtet und die Arbeitsbedingungen dort hinterfragt. Ein großer Erfolg!

Besonders stolz sind wir auf die Wheelmap, eine Online-Karte, auf der weltweit rollstuhlgerechte Orte eingetragen werden können. Die Idee dazu kam Raul Krauthausen und einem Kollegen, da sie sich immer wieder im gleichen Café getroffen haben, einfach nur weil sie wussten, dass dieser Ort rollstuhlgerecht war. Wäre es nicht praktisch, wenn man einfach nachschauen könnte, welche Orte barrierefrei zugänglich sind? Nach dem Motto „Einfach mal machen“ entwickelten sie eine App und die Wheelmap war geboren. Mittlerweile gibt es Informationen über die Rollstuhlgerechtigkeit zu über zwei Millionen Orten weltweit, die von Nutzer*innen eingetragen oder über eine Schnittstelle mit der Open Street Map generiert wurden.

Wow! Was ist das Erfolgsrezept hinter der Wheelmap?

Die Wheelmap ist ein digitales Mitmach-Projekt und lebt davon, dass möglichst viele Menschen Orte bewerten oder sich anderweitig einbringen. So gibt es zum Beispiel niedrigschwellige Mapping-Events als Teambuilding-Maßnahme, bei denen Menschen durch ihre Städte laufen und gemeinsam Informationen eintragen. Das verändert nachhaltig ihren Blick auf die eigene Umgebung und den Arbeitsalltag.

Gerade arbeiten wir gemeinsam mit der Community an weiteren Barrierefreiheitskriterien. Auch Informationen über Ruheräume, Blindenleitsysteme und die Akzeptanz von Assistenzhunden könnten zukünftig erfasst werden. Letztes Jahr hat eine Umfrage ergeben, dass es außerdem einen hohen Bedarf nach Barrierefreiheitsinformationen für Arztpraxen gibt, auch daran arbeiten wir.

Was genau ist Disability Mainstreaming?

Der Begriff bedeutet, Behinderung nicht als Nischenthema zu betrachten, sondern in den Mainstream zu bringen. Konkret heißt das, Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe auf allen gesellschaftlichen Ebenen und für alle relevanten Themen mitzudenken und echte Teilhabe zu ermöglichen. Der Slogan „Nichts über uns ohne uns!“ aus der Behindertenrechtsbewegung bringt die Forderung auf den Punkt. Doch noch nicht mal das ist gewährleistet. Darüber hinaus taucht das Thema Behinderung oft nur dann auf, wenn es um Behinderung geht. Aber warum sollte nicht ein Mensch mit Behinderung beispielsweise Werbung für Apfelsaft machen? Oder mitentscheiden, wenn es um Umweltpolitik geht?

Wie wollt ihr hier politische Veränderung bewirken und wer sind dabei Verbündete?

Wir Sozialheld*innen sind sehr gut vernetzt in der Behindertenrechtsbewegung. Von anderen Organisationen unterscheidet uns vor allem, dass wir kampagnenfähige sind. Kampagne bedeutet für uns beispielsweise die Bundesregierung und andere Politiker*innen zu adressieren, aber auch die breite Öffentlichkeit für unsere Themen zu sensibilisieren. Und auch andere NGOs sind Adressat*innen – ein Beispiel dafür ist, dass viele NGOs Menschen mit Behinderung immer noch nicht konsequent mitdenken und beispielsweise Mobilisierungsvideos ohne Gebärdensprachendolemtschung oder Untertitel veröffentlichen.

Woran liegt es, dass das immer noch kein Standard ist?

Weil es schlicht und einfach häufig vergessen wird, denn in vielen Teams sitzen keine Menschen mit Behinderungen. Auch aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich berichten, dass ich weder in Kindergarten, Schule, Uni oder Freundeskreis Kontakt mit Menschen mit Behinderungen hatte. Das erste Mal mit Menschen mit Behinderungen zusammengearbeitet habe ich hier bei den Sozialheld*innen. Das hat meinen Blick stark verändert!

10 % der Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. Rechnerisch heißt das, dass jede 10. Person im Kolleg*innen- oder Freund*innenkreis eine Behinderung haben müsste, bei den meisten Menschen ist das aber nicht der Fall. Und genau das ist total unnötig!

Was kann jede*r selbst in der eigenen Organisation ändern, um beispielweise die eigene Webseite barrierefreier zu gestalten?  

Zunächst einmal ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass digital nicht gleich barrierefrei bedeutet. Viele Menschen glauben dies, da sie beim Stichwort Behinderung direkt das Bild von einer Person im Rollstuhl im Kopf haben. Es gibt aber noch viele weitere Behinderungen wie beispielsweise Seh- oder Hörbeeinträchtigungen und kognitive Einschränkungen, die weit weniger sichtbar sind.

Für die Gestaltung der Webseite sollten folgende Punkte beachtet werden: serifenlose Schriftarten verwenden, auf ausreichende Kontraste achten, wichtige Informationen nicht nur farblich hervorheben, sondern auch durch Symbole und Bilder mit Alternativtexten hinterlegen. Das ist besonders wichtig, um auch blinden Menschen den Zugang zur sehr visuellen Online-Welt zu ermöglichen. Für barrierefreie Videos braucht es nicht nur Untertitel, sondern auch eine Audiodeskription und im besten Fall auch eine*n Gebärdensprachendolmetscher*in. Denn die Gebärdensprache ist eine eigene Sprache. Die Schriftsprache ist für Menschen, die Gebärdensprache als Muttersprache nutzen, daher wie eine Zweitsprache. Darüber hinaus sollte auf eine einfache Sprache geachtet werden. Das bedeutet kurze Sätze formulieren, Fachwörter vermeiden, klare Aussagen und eine übersichtliche Struktur schaffen.

Wer profitiert besonders von diesen Maßnahmen?

Einfache Sprache, ausreichende Kontraste und Untertitel kommen vielen Menschen zu Gute und erleichtern auch Menschen, die wenig Deutsch verstehen oder Leseschwächen haben, den Zugang! Das Phänomen, dass auch viele Menschen ohne Behinderung ebenfalls profitieren, wenn sie beispielsweise beim Gucken von Videos in der S-Bahn Untertitel nutzen können, wird „curb cut effect” (übersetzt  etwa abgesenkter Bordstein-Effekt) genannt. Der Begriff kommt aus Amerika und wurde geprägt als für die Veteran*innen, die mit dem Rollstuhl unterwegs waren, Bordsteine abgesenkt wurden. Dies erleichterte auch Menschen mit Kinderwagen, mit schwerem Koffer oder Rollator den Alltag. Ein weiteres Beispiel ist das Sprachsteuerungssystem „Alexa“, das ursprünglich für Menschen mit Behinderung designt wurde und heute aus vielen Haushalten nicht mehr wegzudenken ist.

Was kann jede*r beim Schreiben oder Sprechen über Menschen mit Behinderung beachten?

Wichtig ist es, die eigene Haltung zu reflektieren und sich zu fragen – wie blicke ich eigentlich auf das Thema Behinderung? Denn viele blicken mitleidig auf Menschen mit Behinderung, was sich in Formulierungen wie „an den Rollstuhl gefesselt“ zeigt. Raul Krauthausen sagt häufig ironisch: „Wenn Sie wirklich eine Person sehen, die an einen Rollstuhl gefesselt ist, dann rufen sie die Polizei!“. Denn für ihn als Betroffener steht der Rollstuhl nicht für eine Einschränkung, sondern für Freiheit und Teilhabe. Auch übertriebene Bewunderung, die sich in Formulierungen wie „trotz der Behinderung ist eine Person lebensfroh“ äußert, ist fehl am Platz. Denn auch hier steckt eine ganz krasse Bewertung drinnen! Anstatt eine medizinische Perspektive einzunehmen und sich in die Diagnose und damit verbundenen Probleme zu vertiefen, sollte der Mensch mit seinen oder ihren Interessen, Fähigkeiten und Meinungen im Vordergrund stehen. Und das bringt es eigentlich auf den Punkt: Es soll um den Menschen gehen und nicht um dessen Behinderung.

Übrigens Betroffene nutzen den Begriff Behinderung aktiv, um ihn aus der beschämten Ecke wieder herauszuholen. Der Begriff Behinderung macht nämlich deutlich, dass Personen oft behindert werden, also viele Barrieren in der Umwelt liegen.

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